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AG Serendipitäres Spurenlesen
Ausgangspunkt
In einem bekannten Essay hat Ginzburg behauptet, die sich im 19. Jahrhundert ausdifferenzierenden „Geisteswissenschaften” teilten sich mit den zeitgenössischen Detektivgeschichten ein epistemologisches Paradigma, das er als „Indizienparadigma” bezeichnete. Für die Kunst der Spurenlese, die Ginzburg anhand paradigmatischer Figuren der frühen Moderne wie Freud, Morelli und Sherlock Holmes in den Blick nahm, ist darüber hinaus jene besondere Form der Zufallskreativität entscheidend, die 1754 erstmals von Horace Walpole auf den Begriff "Serendipity" gebracht wurde und die bis heute in kulturtheoretischen Diskursen eine Rolle spielt: Die Entdeckung von Spuren lässt sich nur selten planen, sie treten mehr oder weniger unerwartet in den Blick, und wenn sie auftreten, müssen sie im Modus kreativer Abduktion ausgewertet werden.
Seither kann man fragen, was die Literaturwissenschaft aus Detektivgeschichten über sich selbst lernen kann, werden doch die Detektive regelmäßig als sowohl professionelle wie kreative Leser dargestellt. Diese Frage richtet sich besonders an solche Detektivgeschichten, die eine postkoloniale Perspektive einnehmen und damit Alternativen zur abendländischen ratio des Detektivs entdecken. Und sie lässt sich auch auf die Geschichte der Detektivgeschichte zurückbeziehen: Häufig wird diese aus einem eurozentrischen Blickwinkel geschildert, so dass die Detektivgeschichte als westeuropäisches Produkt erscheint. Doch so wie die Schlussfolgerungen des Detektivs häufig die reine Logik überschreiten (Abduktion), so hat schon Ginzburg einen außereuropäischen „Ursprung des Indizienparadigmas” angesprochen, wenn er auf die orientalische „Geschichte der drei Söhne des Königs von Serendippo” als Archetyp verweist.
Arbeitsgruppe
Die Arbeitsgruppe "Serendipitäres Spurenlesen" will vor diesem Hintergrund im vergleichenden Blick auf europäisch-nordamerikanische und außereuropäische Ermittlungsgeschichten einerseits Ginzburgs Indizienparadigma auf seine Aktualität hin prüfen und andererseits die Rolle, Herkunft und Tradition der Serendipität reflektieren. Hierdurch ergeben sich außerdem produktive Vergleichsbezüge zu literaturwissenschaftlichen und insbesondere komparatistischen Praktiken.
Eine erste Veranstaltungsreihe fand im Sommersemester 2022 in Form von regelmäßigen Arbeitstreffen bestehend aus Vorträgen und gemeinsamer Lektüre statt. Die Ergebnisse werden in einem Sammelband in der Metzler-Reihe „Diskurse der Kriminalität in Literatur und Medien“, hg. v. Susanne Düwell und Christof Hamann, mit dem Titel "Serendipitäres Spurenlesen. Zur kulturellen Relativität des Indizienparadigmas in Detektiverzählungen und Wissenschaft", hg. von Joachim Harst und Reinhard M. Möller, veröffentlicht.
Aktuelle Veranstaltungen und Ankündigungen
Sammelband: Serendipitäres Spurenlesen. Zur kulturellen Relativität des Indizienparadigmas in Detektiverzählungen und Wissenschaft (Joachim Harst/Reinhard M. Möller)
Im Anschluss an die Veranstaltungsreihe im Sommersemester 2022 wird in der Metzler-Reihe "Diskurse der Kriminalität in Literatur und Medien", hg. v. Susanne Düwell und Christof Hamann, ein Sammelband mit dem Titel "Serendipitäres Spurenlesen. Zur kulturellen Relativität des Indizienparadigmas in Detektiverzählungen und Wissenschaft", hg. von Joachim Harst und Reinhard M. Möller, veröffentlicht.
Der Sammelband beschäftigt sich mit der Bedeutung von Serendipität (Zufallskreativität) für das detektivische und wissenschaftliche Spurenlesen und Schlussfolgern sowie mit der literarischen Ursprungsgeschichte dieses Begriffes. Mit der „kulturellen Relativität des Indizienparadigmas” adressiert er die Frage nach außereuropäischen Ursprüngen der detektivischen Ratio und vergleicht verschiedene literarische Darstellungen serendipitären Spurenlesens aus unterschiedlichen Epochen und Nationalliteraturen miteinander. Lassen sich verschiedene Logiken des Spurenlesens und Schlussfolgerns in verschiedenen literarischen Kulturen nachweisen? Spiegelt möglicherweise die Geschichte des Genres zwischen Alter und Neuer Welt selbst eine vielfältige Logik wider? Und wie stehen diese verschiedenen Verfahrenslogiken mit unterschiedlichen Modellen (literatur)wissenschaftlicher Investigation in Beziehung?
Vergangene Veranstaltungen
Vortrag und Gespräch mit Prof. Franziska Nori: Aktivismus oder Kunst? (Münster)
Investigative Kunst setzt sich kritisch mit der Welt auseinander, indem sie über vertiefte Recherche und mit bildgebenden Verfahren gesellschaftlichen und politischen Strukturen sichtbar macht. Es geht um die Aufdeckung von Strukturen der Macht, staatliche und wirtschaftliche Interessen, um Enthüllung verschleierter Fakten.
Hierüber hat Prof. Franziska Nori, die Direktorin des Frankfurter Kunstvereins, mit uns am 4. Mai um 18:30 Uhr im Kunstmuseum Picasso in Münster gesprochen.
Mit Beispielen aus der aktuellen internationalen Kunst und mit Schwerpunkt auf der Ausstellung "Three Doors", die der Frankfurter Kunstverein mit der Rechercheagentur Forensic Architecture / Forensis e.V., den Angehörigen der Opfer des rassistischen Attentats von Hanau und den Angehörigen von Oury Jalloh im Mai 2022 realisiert hat, wurde das Spektrum künstlerischen investigativen Arbeitens und ihr Aktionsradius auf die Gesellschaft aufgezeigt.
Tagung (Joachim Harst/Nursan Celik): Virtuelle Investigationen. Zur Revision des Indizienparadigmas in Recht, Literatur und den Künsten (Münster)
Als Ginzburg (1995) die These formulierte, dass die Geisteswissenschaften wie die Kriminalliteratur im sog „Indizienparadigma“ gründeten, hatte er mit Sherlock Holmes einen Detektiv vor Augen, der persönlich den Tatort besichtigte. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in Forschung und Fahndung muss dies allerdings einer Revision und Aktualisierung unterzogen werden: Computergestützte Fahndungs- und Aufklärungsmethoden können nun eine Besichtigung des Tatorts, eine Auswertung positiver Spuren ergänzen oder gar ersetzen. In der populären Darstellung moderner Investigation zeichnet sich daher eine Verschiebung ab, die den einzelnen Ermittler durch ein Team von Forensikern ersetzt, das Fälle durch digitale Datenverarbeitung löst.
Während solche Investigationspraktiken in der populären Darstellung mit positivistischen Erkenntnisansprüchen verbunden werden, heißt es aus wissenschaftlicher Perspektive auch ihre konstruktivistische Dimension zu untersuchen: Rekonstruktionen, Visualisierungen und Simulationen produzieren Beweismittel und können im Extremfall die Spuren überhaupt erst hervorbringen, die es auszuwerten gilt. So bezeugen und betreiben heutige Investigationspraktiken eine fortschreitende Virtualisierung investigativen Wissens, die auf das „Indizienparadigma“ und seine Grundbegriffe (Indiz, Spur, Beweis, Referenz, Erkenntnis) zurückwirkt – und damit auch auf Kunstwerke, die mit dem „Indizienparadigma“ in Kontakt stehen.
Die Tagung am SFB Recht und Literatur der Uni Münster hat die kultur-, kunst- und literaturgeschichtlichen Zusammenhänge dieser Virtualisierung im späten 20. Jahrhundert aufgearbeitet. Sie fand am 4. und 5. Mai 2023 im Lesesaal der Bibliothek des Germanistischen Instituts (Schlossplatz 34, 48143 Münster) sowie im Kunstmuseum Picasso (Abendvortrag und Gespräch mit Prof. Franziska Nori, Direktorin des Frankfurter Kunstvereins) statt.
Gespräch mit Dr. Hedda Holzhauer: Serendipity in Kriminalistik und Literatur(wissenschaft) (Frankfurt/Hybrid)
Am Freitag, 23.6.2023, um 14 Uhr haben wir mit Dr. Hedda Holzhauer, die als Fallanalytikerin beim Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz arbeitet, ein interdisziplinäres Gespräch zum Thema "Serendipity in Kriminalistik und Literatur(wissenschaft)" geführt. Frau Holzhauer hat eine Dissertation über "Kriminalistische Serendipity" verfasst, die hier online abrufbar ist:
https://ediss.sub.uni-hamburg.de/bitstream/ediss/6960/1/Dissertation.pdf.
Vor diesem Hintergrund haben wir mit ihr über die Praxis serendipitären Spurenlesens und über spannende Bezüge zwischen Ihrem Fach und Ihrer Tätigkeit und unseren Gegenständen und Wissenschaftspraktiken gesprochen.
Die Veranstaltung fand hybrid im Seminarhaus auf dem Campus Westend der Uni Frankfurt (https://goo.gl/maps/aPK4ZZizKJDcUw418) und über Zoom statt.
Abschlussveranstaltung (Ksenia Kuzminykh, Elisabeth Franke, Nursan Celik)
- Begrüßung
- Ksenia Kuzminykh: Das Serendipitätsprinzip in der Jugendliteratur aus weltliterarischer Perspektive
- Elisabeth Frank: Stolpern, Wanken, Irren – Ermitteln und Denken in serendipitätsfördernden Architekturen
- Nursan Celik: Parasiten der wirklichen Welt. Zur Anwendung inferenzieller Schlussfolgerungsprinzipien auf literarische Lektüren
- Schlussdiskussion
Virtuelles Arbeitstreffen (Soonim Shin, Jorge Estrada)
- Soonim Shin (Wien): Detektive des Phantastischen: Der Arzt Fridolin in Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ und der Wesir Djafar in „Die drei Äpfel“, einer Geschichte aus „Tausendundeiner Nacht“
- Jorge Estrada (Berlin): Die Mannigfaltigkeit der Spuren in Erzählungen perfekten Verbrechens
Virtuelles Arbeitstreffen (Xuhang Yang/Bohan Ye, Gero Guttzeit)
- Xuhang Yang/Bohan Ye (Köln): Ermittlungslogiken und -praktiken in chinesischen Gong’an-Erzählungen
- Gero Guttzeit (München): Auf Holmes’ Spuren? Arthur Conan Doyle, Satyajit Ray und weltliterarische Lektürepraktiken
Auftakttreffen (Reinhard Möller, Joachim Harst, Lina Wilhelms)
- Reinhard Möller: Horace Walpoles Serendipity-Konzept und die Drei Prinzen von Serendip als Detektive avant la lettre
- Textlektüre: Die Brunellus-Episode aus Umberto Ecos Roman Der Name der Rose (Moderation: Joachim Harst)
- Lina Wilhelms: Causalidad y casualidad – Kausalität und Zufall in argentinischen Kriminalerzählungen